Marina K. Wolf
Autorin

RIANNU
Band III: Drachengesang

Kapitel 1

Soleana Ysahandria kei Móonui, Prinzessin von Taira und ältestes Kind des amtierenden Hochkönigs der Fünf Reiche, Daeris Rakama kei Móonui, sah sehnsüchtig zu den Mauern ihrer Heimatstadt, die im Licht der Abendsonne leuchteten. Es wirkte, als müsste sie nur die Hand ausstrecken, um sie zu berühren. Dennoch wusste der vernünftige Teil in ihr, dass sie die Tore von Taira selbst mit einem schnellen Pferd nicht mehr erreichen würde, bevor sie für die Nacht geschlossen wurden. Und sie hatte kein Pferd, nicht einmal ein langsames, und ihre Füße und Beine schmerzten von dem ungewohnten Tagesmarsch. Widerwillig folgte sie darum ihren Freunden in den Innenhof eines kleinen Gasthauses, dessen Mauern ihr nun den Blick auf die strahlende Hauptstadt Riannus verwehrten.

Der Gastwirt, der ihnen eifrig entgegen trat, musterte ihre kleine Reisegemeinschaft misstrauisch. Soleana folgte seinem Blick und konnte es ihm nicht verdenken. Die Wochen im Sumpf und die anschließenden Tage auf der Straße hatten ihre Spuren an allen hinterlassen. Sie hatten sich bemüht, ihre Kleidung regelmäßig zu waschen, aber man sah ihr dennoch den Verschleiß an, ebenso wie den Bündeln, in denen sie den Teil ihres Gepäcks verstaut hatten, der nicht auf die eine oder andere Weise verloren gegangen war. Zolan, der sich so darauf gefreut hatte, den Fluss zu verlassen und zurück in die Zivilisation zu kehren, wie er es nannte, fuhr sich nun mit nervösen Fingern durch die dunklen Haare, als könnte er sie damit zwingen, gepflegter auszusehen. Sie waren inzwischen so lang, dass er sie im Nacken zusammenbinden konnte und die weiße Strähne an seiner Stirn trat deutlich hervor. Hinter seinen Beinen lugte ein staubgraues Kätzchen hervor und zuckte neugierig mit den Ohren. Nur die türkisblaue Farbe ihrer Augen erinnerte noch daran, dass Tomo normalerweise ein blaues Fell hatte und zwei kleine, in ihrem Alter noch nutzlose, weiße Flügel auf dem Rücken. Als sie das erste Mal anderen Reisenden begegnet waren, hatte die kleine Kediti ihre Gestalt gewechselt und begleitete sie seither als normale Katze, auch wenn sie die Farbe ihres Fells in unbeobachteten Momenten gern änderte.

Neben Zolan hatte Maris ihre Hände tief in ihren Hosentaschen vergraben und obwohl die Zwillinge einander zum verwechseln ähnlich sahen, wirkte sie nun irgendwie kleiner als ihr Bruder und sehr unscheinbar. Sie war weniger begeistert gewesen, sich vom Fluss und der Einsamkeit des Sumpfes zu trennen. Sie war mit jedem Menschen, dem sie begegneten, stiller geworden, bis selbst Soleana ihre Freundin zeitweise vergaß. Von der Kediti einmal abgesehen, hatte Maris sich von ihnen allen im Sumpf am wohlsten gefühlt und hatte besonders während des letzten Teils ihrer Reise viel im Wasser verbracht, um mit dem Flussdrachen Mukon zu reden und zu tauchen.

Soleana lief ein leichter Schauer über den Rücken, als sie an die leuchtende Wassergestalt dachte, die in ihren Augen einem Gott näher kam als allem anderen. Trotz Mukons Freundlichkeit und Hilfe hatte Soleana ihre Furcht vor dieser unheimlichen Präsenz nie ganz ablegen können, mit der Maris am Ende so unbekümmert umgegangen war wie mit einer alten Schulfreundin. Es war Soleana ein Rätsel, wie Maris sich zwar spielerisch leicht mit Flussgöttern und Flugkatzen anfreunden konnte, aber jetzt vor dem kleinen, feisten Wirt stand und den Eindruck erweckte, als wollte sie sich am liebsten in Luft auflösen.

Nur Noji verhielt sich so entspannt und unbekümmert wie immer, während er mit dem Wirt über den Preis von zwei Zimmern und heißem Waschwasser verhandelte, und entlockte dem Mann sogar ein verhaltenes Lächeln. Er war noch immer dünn von der Krankheit, die ihn beinahe das Leben gekostet hätte, und seine Kleidung war nicht besser als die der anderen, doch ihn schien seine Aufmachung kein bisschen zu stören.

Soleana kaute auf ihrer Zunge herum, um sich zurückzuhalten und wie ein braves Mädchen im Hintergrund zu bleiben. Unter anderen Umständen hätte der Wirt in erster Linie ihr seine Aufmerksamkeit geschenkt und sie hätte ihm die Ehre erwiesen, in seinem besten Zimmer zu übernachten. Aber sie trug noch immer Männerkleidung von der Reise und hatte ihre auffälligen rotblonden Locken mit einem nicht mehr ganz sauberen Schal zurückgebunden, wie es die Bauersfrauen taten. Niemand von diesen einfachen Leuten hier käme auf die Idee, in ihr die Prinzessin von Taira zu vermuten. Hier in diesem Gasthof war sie nur eine Frau, dazu noch eine schlecht gekleidete, und als solche kein vernünftiger Verhandlungspartner.

Das Lächeln des Gastwirts hellte sich auf, als Münzen von Hand zu Hand wanderten und Noji sicher stellte, dass der Mann den wohl gefüllten Beutel sah, aus dem sie stammten. Soleana mochte sein Lächeln nicht, ihr gefiel der ganze Mann nicht und ihr gefiel nicht, dass sie eine ganze Nacht hier verbringen mussten, bevor sie endlich nach Hause gehen konnte.  

Sie schmollte noch immer, als sie an einem Tisch in der Gaststube Platz nahmen und eine untersetzte Frau ihnen lauwarmen Eintopf brachte.

Noji rührte nun ebenfalls verstimmt in seiner Schüssel. „Für die gesalzenen Preise hier, könnte es wenigstens heiß sein.“

Die Wirtin war zurückgekommen und hörte seinen Kommentar. Ungnädig knallte sie vier Krüge Dünnbier auf den Tisch. „Wenn's dir nicht passt, such dir nen anderen Platz für die Nacht. Glaub nicht, dass wir auf dich angewiesen sind, wo jetzt sogar Priester hier absteigen.“

Zolan horchte auf. „Ihr habt wandernde Priester unter euren Gästen?“

„Nu, ich weiß nich direkt, ob sie wandern. Unterwegs sind sie wohl in die Stadt, wie alle. Es heißt, der Rat der Könige kommt zusammen und entscheidet bald über einen neuen Daerdan.“ Die Frau beäugte ihn und das Zeichen des stilisierten Baums, das er wie Maris auf dem Hemd trug und ihn als Irshari auswies. „Ich weiß ja nicht, ob es für euch grad so'n guter Platz is hier. Nicht, dass wir was gegen euch Volk haben, das nu nich. Handelt gut, das sagt mein Alter immer, und Geschäft ist Geschäft. Aber die Priester sind nicht so glücklich, wenn sie euch sehen, wenn ihr wisst was ich sagen will.“

Sie formte mit zwei Fingern ein liegendes V an ihrem Auge und Noji schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln. „Danke für den Tipp und mach dir keine Sorgen. Wir brechen morgen in aller Frühe auf.“

Sie nickte und ging davon.

„Vielleicht sollten wir den Baum nicht so offen auf unserer Kleidung tragen, während wir hier sind“, schlug Maris leise vor.

Zolan lehnte sich vor. „Du willst dich vor denen verstecken? Sei nicht albern!“

Maris zuckte mit den Schultern. „Ich möchte nur Streitereien aus dem Weg gehen, solange wir Sol bei uns haben.“

Die Angesprochene schüttelte den Kopf. „Irshari haben ein Recht wie jeder andere, hier zu sein. Dagegen kann auch ein Priester nichts machen.“

Noji setzte seine Schüssel an die Lippen, trank den Eintopf mit einem Schlürfen aus und stand auf. „Ich hör mich mal ein bisschen um. Bleibt einfach brav hier sitzen und zieht keine Aufmerksamkeit auf euch.“

Zolan starrte in Nojis leere Schüssel. „Dafür, dass du so gemault hast, hast du dir ja nicht gerade Zeit gelassen.“

Sein Freund grinste. „Ich verschwende grundsätzlich kein Essen und ich hatte schon schlechteres.“

Er schlenderte davon und blieb ein Stück entfernt an einem Tisch stehen, an dem drei Männer Karten spielten. Der Kleidung nach waren sie vermutlich Handwerker aus der Gegend. Eine Weile sah er ihnen zu, sagte etwas, das die drei zum Lachen brachte, und machte ein Zeichen zur Theke hin. Als die Wirtin mit schäumenden Krügen kam, wurde sie fröhlich begrüßt und Noji nahm den vierten Platz am Tisch ein.

Zolan kaute lustlos auf seinem Essen herum und beobachtete die Leute umher. Als ein unscheinbarer Mann mit kahlem Schädel den Raum betrat, zuckte er so heftig zusammen, dass er fast seinen Krug umgestoßen hätte.

Soleana folgte seinem Blick. Der Mann trug eine lange, graue Kutte, die mit einem breiten, ebenfalls grauen Band gegürtet war. „Ein Freund von dir?“

Zolan schüttelte den Kopf. „Nicht direkt. Vielleicht wäre es besser, wenn er mich nicht sieht.“  

Er fluchte leise.

„Er sieht nicht besonders beeindruckend aus“, stellte sie fest, die ihren Stuhl ein wenig verschob, um dem Priester die Sicht auf Zolan zu verwehren.

Zolan hatte sich in den letzten Tagen ihrer Reise dazu durchgerungen, die Prinzessin in die Umstände einzuweihen, unter denen er Gunlus Tempel in Boros Punor verlassen hatte. Seitdem hatte niemand von ihnen die Nacht weiter erwähnt, in der sein Ziehvater ermordet worden war und er in seiner Wut dessen Mörder getötet und beinahe den halben Tempel niedergebrannt hatte. Er war für seine Verbrechen gefangen genommen, öffentlich ausgepeitscht und für tot erklärt worden und Soleana hatte den Eindruck bekommen, dass er diesen Teil seines Lebens am Liebsten vergessen wollte.

Während er jetzt den Neuankömmling beobachtete, wechselten seine Augen schneller zwischen einem harten Smaragdgrün und einem dunklen Braungrün hin und her als Soleana es je gesehen hatte. Er gab einen Laut zwischen einem Knurren und einem Brummen von sich und von unter dem Tisch stimmte ein Fauchen mit ein.

Tomo hatte sich unbeachtet von den Gastleuten mit ihnen in die Stube geschlichen und sprang jetzt auf Zolans Schoß, um ihren Kopf an seiner Brust zu reiben. Fast augenblicklich entspannte der sich ein wenig und seine Augen gingen in eine laubgrüne Farbe über. Er strich über Tomos Fell und sagte an die Prinzessin gewandt: „Bruder Kemikan war einer der höchsten Gelehrten in Gunlus Tempel und oft in der Bibliothek, in der ich ausgeholfen habe. Siehst du das Zeichen an seiner Kette? Offenbar wurde er nach dem Tod von Bruder Kataiplan zum Inquisitor ernannt und ich wette ihm gefällt der Posten.“

Er spuckte die Worte regelrecht aus und Soleana sah ihn besorgt an. „Ich nehme an, ihr habt euch nicht besonders gut verstanden?“

„Niemand versteht sich gut mit diesem Giftmischer“, knurrte Zolan und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. „Ein paar der jüngeren Brüder laufen ihm hinterher als ob er Gunlus einzig wahre Stimme auf Erden ist, aber ich glaube, da halten sich Angst und Verehrung ganz gut die Waage.“

Zwei weitere Priester betraten den Raum und gesellten sich zu Bruder Kemikan. Die dunkelrote Farbe ihrer Gürtel wies auf ihre Zugehörigkeit zum Tempel des Kriegs- und Donnergottes Kouto hin.

„Ich glaube, das ist unser Stichwort, um uns unauffällig in unsere Zimmer zu verziehen“, murmelte Maris und die anderen stimmten zu.

Sie nutzten die nächste hereinkommende Gruppe von Leuten als Deckung, um zur Treppe zu gelangen. Noji war zu sehr in sein Kartenspiel vertieft, um sie zu bemerken, doch er würde sich denken können, wohin sie verschwunden waren.